Ein paar kurze Worte...
...über die Welt und auch ein bisschen über mich
Montag, 19. März 2007
Am Abgrund
Die Aussicht war gigantisch. Sie konnte beinahe über die ganze Stadt sehen. Wenn sie sich umdrehte, blickte sie hinüber zum Dom und im Westen waren sogar die Berge zu erkennen. Sie stand dort und ließ ihren Blick schweifen, sah in die Ferne und bekam beinahe das Gefühl, fliegen zu können. Der Straßenlärm des Nachmittagsverkehrs drang zu ihr hinauf, doch die einzelnen Geräusche vermischten sich zu einem großen Brei, aus dem nur wenige individuelle Fahrzeuge herausstachen. Jemand hupte. Sie sah hinunter. Wie kleine Ameisen krochen die Autos auf den Straßen, bogen um die Ecken oder warteten an den Ampeln. Zum Glück war sie schwindelfrei. Gut, eigentlich wäre es möglicherweise sogar hilfreich gewesen, es nicht zu sein. Zumindest wäre ihr eine Entscheidung womöglich abgenommen worden. Doch es war noch nicht so weit. Sie wollte erst noch eine Weile nachdenken.
Sie hatte es sich bereits gut überlegt und sich für diesen Weg entschieden. Jetzt, wo sie aber hier war, konnte sie es nicht so einfach tun.
Sie blickte wieder auf. Die tief stehende Sonne schob sich zwischen den Wolken hervor und hüllte die Stadt in ein warmes, beruhigendes Licht. Der Dom, die Hochhäuser, der Fernsehmast, sie alle schienen sich zufrieden in den wohltuenden Sonnenstrahlen zu räkeln.
"Tu es. Jetzt! Sonst ist es zu spät."
"Einen Moment noch." Sie sah zur Sonne. Sie begann, langsam den abendlichen Rotstich zu bekommen. Auf einmal fühlte sie den kalten Ostwind nicht mehr.
"Na los. Du hast es so entschieden, also steh auch dazu!"
"Ja ich... bin gleich soweit."
"Worauf wartest du? Es wird niemand kommen, der dich rettet. Niemand wird dir eine Träne nachweinen. Also los jetzt."
Die Stimme hatte ja Recht, nur sie sagte Dinge, die sie nicht hören wollte. Sie wollte, dass jemand kommen würde, um sie zu retten. Sie wollte, dass die Leute ihr nachweinten. Doch es war ihre eigene Stimme, die da zu ihr sprach, und sie hatte Recht.
Noch immer stand sie da. Eine Brise fuhr ihr durchs Haar und ließ es herumwirbeln. Wieder sah sie nach unten. Es hatte sich nichts verändert. Die Menschen gingen ihre alltäglichen Wege. Niemand sah, dass sie hier oben stand. Sie würden es erst merken, wenn sie unten auf der Straße läge. Dann wäre dort unten ein Chaos, sofort würden Schaulustige gaffen und sich eine Menschenmenge hätte sich sofort um sie gebildet. Sie wäre endlich einmal der Mittelpunkt des Geschehens. Sie würde endlich einmal Aufmerksamkeit bekommen.
"Eben! Genau deshalb hast du dich so entschieden."
Hatte sie das wirklich? Ja. Hatte sie. Deshalb war sie hier.
Die Sonne strahlte sie nach wie vor mit ihrer ganzen Schönheit an. Jetzt war der Moment gekommen.
Sie schloss die Augen, drehte sich um und tat einen Schritt...
Der Kies auf dem Dach knirschte unter ihrem Gewicht, als sie zur Treppe lief. Auf wackligen Beinen ging sie die Stufen hinab und schlich sich zum Fahrstuhl. Auf der Straße angekommen, sah sie in die Gesichter der Menschen, so gleichgültig, müde und normal wie sie waren. Wenn die nur wüssten...
Sie musste lächeln. Und sie fühlte sich gut. Verdammt gut.

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Eine sprachlich aber vor allem inhaltlich sehr gute Geschichte über einen verzweifelt nach ein wenig Anerkennung suchenden Menschen.

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Danke :)

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HEyhey Bastichen :)

Sehr bewegende und nachdenklich stimmende geschichte, wunderbar geschrieben, einfach topp!

Weiter so *go basti go* ;)

deine ELI

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