Ein paar kurze Worte...
...über die Welt und auch ein bisschen über mich
Samstag, 29. Oktober 2011
Beim Orthopäden
Eigentlich muss ich um 9 Uhr morgens auf Arbeit sein. Spätestens. Da beginnt nämlich die Kernzeit. Ausnahmen gibt es aber natürlich. Zum Beispiel, wenn man zum Arzt muss, so wie ich heute. Es ist nichts Dramatisches, nichts Akutes, aber es muss halt sein. Also hatte ich den Termin extra so früh wie möglich gelegt, um möglichst wenig Kernzeit zu verpassen. 9:15 wurde mir gesagt.
Um 9:05 stehe ich also an der Rezeption und bin schon überrascht, dass gar keine Schlange davor steht so wie letztes Mal. Streng genommen ist sogar gar niemand davor und ich kann mich quasi gar nicht hinten anstellen. Dafür ist das Wartezimmer, das sich direkt zu meiner Linken befindet, rappelvoll. Aber das beunruhigt mich erst einmal nicht sonderlich. Schließlich habe ich einen Termin in 10 Minuten. Nachdem ich etwa eine Minute lang an der Rezeption gestanden habe, werde ich das erste Mal beachtet.
"Ich hab einen Termin um Viertel nach.", rechtfertige ich mein Auftauchen und füge meinen Namen an.
"Dann hätte ich gerne Ihre Versichertenkarte und die Überweisung oder 10€ Praxisgebühr."
Ach Scheiße. Der letzte Besuch ist ja noch im vorigen Quartal gewesen und ausgerechnet heute habe ich keinen einzigen Euro im Portemonnaie, weil ich gestern so nett gewesen bin, jemandem Geld auszulegen. Eine Überweisung habe ich natürlich auch nicht. Also überreiche ich schon einmal ein paar MRT-Bilder meiner Schulter und mache mich auf den Weg zu einem Bankautomaten. Zehn Minuten später ist das erledigt und ich darf Platz nehmen. Wie lange ich denn warten müsse, will ich wissen. Die Sprechstundentante tippt irgendwas in ihren Computer und stiert angestrengt und vorgebeugt auf ihren Bildschirm, ehe sie mir antwortet, dass noch drei Patienten vor mir dran sind. Das ist nun nicht wirklich eine Antwort auf meine Frage und so versuche ich eine andere Strategie, die sie vielleicht nicht so überfordert. Ich schätzte etwa eine halbe Stunde. Dankbar für meinen Vorschlag, nickt sie eifrig.
Nun gut, 30 Minuten sind ja noch akzeptabel. Ich finde sogar noch einen freien Stuhl in der Ecke, neben einer von Nahem dann doch nicht mehr so attraktiven jungen Frau wie von Weitem, und setze mich. Damit bin ich nach dem 10-Jährigen, der am Spieltisch mit Duplo spielt, mit am meisten Ausschlag gebend für das Senken des Altersdurchschnitts der Wartenden um ein paar Jahrzehnte und dazu hebe ich den Anteil der Personen ohne Migrationshintergrund im Raum deutlich an. Die junge Frau neben mir fixiert ihr Handydisplay und versuchte sich in Tetris.
Aus meinen Ohrstöpseln dringt entspannende Musik und ich überlege, ob es sich in 30 Minuten lohnt, meinen Laptop herauszuholen und ebenso Tetris zu spielen. Oder vielleicht noch ein bisschen an Diesem und Jenem zu schreiben. Ich entschließe mich dazu. Doch da in der Arztpraxis natürlich kein frei zugängliches W-LAN-Netz existiert, sind meine Möglichkeiten, hier E-Mails zu schreiben, Blogeinträge zu verfassen oder sich über die unglaublich wichtigen Neuigkeiten so mancher Facebook-"Freunde" zu amüsieren, erheblich eingeschränkt. Auf Tetris habe ich dann auch keine Lust, will meine Sitznachbarin schließlich auch nicht mit meiner um ein Vielfaches größeren Bildschirmdiagonalen verhöhnen, und so überarbeite ich einfach eine Weile die Website meines Vereins. Das geht auch offline.
Nach dieser Weile gibt es aber nichts mehr zu überarbeiten, auf Tetris habe ich immer noch keine Lust und so klappe ich das Ding wieder zu. Der Blick auf die Uhr lässt mich staunen. Es ist bereits kurz nach 10. Mit den 30 Minuten habe ich offenbar doch nicht so ganz richtig gelegen. Ich greife erneut in meinen Rucksack, krame "Mein wunderbarer Wedding" hervor und beginne zu lesen. Die junge Frau spielt weiterhin Tetris und der Junge Duplo. Dabei stellt er sich so dämlich an, dass ihm jeder zweite Stein mit nervigem Geklapper vom Tisch fällt und die entspannende Musik in meinen Ohren übertönt wird. Der Rest der Wartenden ist in Prospekte und Zeitschriften vertieft oder starrt abwesend vor sich hin. Ab und zu wird jemand aufgerufen und erwacht, aufgeschreckt durch den eigenen Namen, aus seiner Trance.
Um zehn nach zehn stelle ich mal meine Musik leiser, denn ich will nicht riskieren, "mich" zu verpassen. Wer weiß, ob die einen zweimal ausrufen.
Ich stecke gerade im dritten Kapitel, als ich schließlich an der Reihe bin. Ist ja auch erst zwanzig nach zehn. Erleichtert packe ich meine Sachen und gehe mit neidischen Blicken der anderen bedacht in die Hinterräume der Praxis. Eine Sprechstundenhilfe - leider nicht die hübsche kleine blonde, sondern eine mitteljunge Deutschtürkin, die in etwa mit der gleichen Begeisterung ihrem Job nachgeht wie Frau Merkel zum Frisör - geleitet mich bis ins Sprechzimmer C, wo ich meinen Rucksack abstelle und mich setze. "Nee, den Rucksack müssense da wegstellen bidde, weil..." Den Rest verstehe ich akustisch nicht, zu sehr gebrabbelt ist die Begründung, die sie hat. Vielleicht weil der Arzt drüberstolpern könnte oder das der Platz für den Rucksack des Arztes ist. Was weiß ich. Ich schiebe ihn 40cm weiter. Offenbar ist das ok, denn die Sprechstundenhilfe verschwindet wieder.
Während ich wieder warte, versuche ich mich auf das zu besinnen, weshalb ich eigentlich hier bin. Achja, meine Schulter. Was war doch gleich der aktuelle Stand? Achja, die MRT-Bilder. Sie liegen schon auf dem Sprechstundentisch. Welch eine großartige Organisation!
Zehn Uhr fünfundzwanzig. Durch die Lamellen der heruntergelassenen Jalousie kann ich in den Innenhof und auf die gegenüberliegende Wand blicken, an der Werbeplakate hängen, die zum Werben auffordern. Genial. Dort auf diese Weise, wie dort offensichtlich keiner werben will, dafür zu werben, dass dort geworben werden kann, zeugt echt von großartiger Intelligenz. Ich seufze und blicke auf die Uhr. Halb elf.
In der mir selbst gestellten Frage, wie wohl das gängige Patienten-Abfertigungssystem hier funktioniert, wie viele Patienten wohl gleichzeitig in ihrem jeweiligen Sprechzimmer auf den einen Arzt warten, der dann von einem Zimmer zum nächsten hüpft, werde ich abrupt gestört. Er steht wahrhaftig vor mir, der Arzt. Gut dass ich pünktlich war zu meinem Termin, sonst hätte ich womöglich noch lange warten müssen. Nun geht es aber endlich los, endlich fühle ich mich gebührend beachtet.
Er sieht sich die MRT-Bilder begleitet von einigen "Uhs" und "Mmmhs" an. Da habe ich ja schon einen ganz schönen Bluterguss, das Weiße da. Und auch der rekonstruierte Teil ist ja auch wieder ziemlich zerstört. Und hier, das Helle, das ist eine Knochenprellung, die durch den Aufprall entstanden ist. Ich nicke und frage mich, ob das schlimm sei. Offenbar nicht, denn der Arzt scheint eher gelangweilt. Er erklärt mir noch, was es mit den seltsamen Geräuschen auf sich hat, die meine Schulter ab und zu von sich gibt und stellt dann als Fazit auf, dass ich doch besser mal zum Spezialisten gehen solle. Er gibt mir die Hand und verabschiedet sich, die Überweisung bekäme ich an der Rezeption.
Wow, das war's? Bin ich etwa schon fertig? Na, das ging ja mal flott.
An der Rezeption muss die Sprechstundenhilfe erst einmal ein dickes blaues Buch wälzen, um die Adresse des Schulterspezialisten herauszufinden. Währenddessen beobachte ich die kleine hübsche Blonde, doch die ist zu beschäftigt, um mir mehr als zweimal in die Augen zu schauen. Dann soll ich noch einmal Platz nehmen. Offenbar wälzt die Sprechstundenhilfe zum ersten Mal das dicke blaue Buch.
Die junge nicht ganz so attraktive Frau und der kleine Duplo-Junge mit seiner Mutter sind verschwunden. Ich setze mich auf einen anderen Stuhl als vorhin und sogleich spricht mich die alte Dame neben mir an.
"Sagen Sie, hatten Sie einen Termin?"
Nachdem ich etwas verwundert bejahe, erklärt sie mir etwas schnippisch, dass sie ja schon vor mir da gewesen ist und schon mehrere Leute, die nach ihr gekommen sind, vor ihr aufgerufen wurden.
Ich fühle mich etwas schlecht, obwohl ich für die Terminvergabe ja eigentlich nicht direkt verantwortlich bin, doch ehe ich etwas erwidern und mich verteidigen kann, mischt sich eine andere ältere Dame ein.
"Da verwechseln Sie etwas. Der junge Mann saß vorhin dort in der Ecke. Ich hab ihn ja gesehen mit seinem Laptop! Er saß dort schon ziemlich lange."
"Ja, das hab ich schon auch gesehen, aber ich bin ja noch vor ihm gekommen. Ich sitze hier schon seit kurz nach 9."
Naja, so viel länger als ich ist das nun auch nicht, denke ich mir. Die beiden Damen beginnen darüber zu streiten, wer länger gewartet hat: Sie, ich oder der ältere Herr neben dem Garderobeständer. Der lächelt nur und schweigt. Und überhaupt verstehe sie ja das ganze System hier nicht. Und man bekomme ja keine Auskunft darüber. Wie könne das denn sein, dass manche später kommen und trotzdem früher dran sind. Ich vermute, dass es etwas damit zu tun hat, dass sie ihren Termin um 10 Uhr gehabt hätte, aber schon um 9 da war. Sie komme ja mit der Bahn und da wisse man ja nicht so genau, wie lange das dauert. Im Stillen stelle ich mir vor, wie ihr Enkelkind versucht, ihr das Internet zu erklären und sie patzig dieses neumodische Zeug mit einer abfälligen Handbewegung abtut. Naja, dann muss sie halt zur Sicherheit eine Stunde mehr Fahrzeit einplanen statt bvg.de einen Besuch abzustatten. Das letzte Mal habe sie hier aber drei Stunden gewartet und da war sie nicht wesentlich früher da gewesen.
Tja, die Welt ist ungerecht.
10:50. Ich darf meine Überweisung zum Schulterspezialisten abholen und verlasse mit einem Blick auf die alten Damen und einem geringfügig schlechten Gewissen die Praxis. Draußen schlägt mir die herbstlich nasskalte Berliner Vormittagsluft entgegen und ich weiß nicht recht, ob ich mich ärgern soll, dass ich 1,25 Stunden auf ein fünfminütiges Arztgespräch gewartet habe, welches dann lediglich eine Überweisung als Ergebnis hatte, oder ob ich froh sein soll, dass ich keine alte Frau ohne jegliche Kenntnisse des World Wide Web bin und die 1,25 Stunden nutzen und die Website fertig überarbeiten konnte. Ich entscheide mich für letzteres, denn froh sein ist einfach viel gesünder als sich zu ärgern.
Außerdem ist es noch nicht mal 11. So komme ich doch noch pünktlich zum Mittagessen zur Arbeit.

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