Ein paar kurze Worte...
...über die Welt und auch ein bisschen über mich
Samstag, 2. Juni 2007
Schuld
Schuld? Nein, schuldig hatte er sich eigentlich nie gefühlt. Nicht, als er als Kind Briefkästen angezündet hatte, nicht nachdem er im Supermark angefangen hatte zu stehlen, nicht als er seine Freundin immer wieder mit diversen leichten Mädchen betrogen hatte und auch nicht, als er seine spätere Frau im Suff schlug. Schließlich war das im Suff gewesen und es hatte einen Streit gegeben, bei dem er im Recht war.
Viele seiner Freunde und Bekannten wussten es nicht, aber er hatte sogar einmal im Knast gesessen wegen versuchten Raubüberfalls. Auch hier fühlte er keine Schuld. Der Ladenbesitzer hatte ihn selbst schon betrogen.
Er wusste, dass er in seinem bisherigen Leben kein Engel gewesen war, doch es war ihm egal. Was kümmerten ihn die Sorgen anderer? Er hatte genug eigene und sah nicht ein, weshalb er Rücksicht haben sollte. Man musste nehmen, was man kriegen konnte und weshalb sollte ausgerechnet ihm Spaß verwehrt sein?
Eigentlich machte er sich darüber gar keine Gedanken. Er war kein großer Denker.
So hatte er das auch an jenem Tag gesehen. Er hatte Spätschicht und den Mittag zu Hause vor dem Fernseher verbracht. Seine Frau war in der Küche gewesen und hatte gekocht. Sie konnte gut kochen und das schätzte er an ihr. Doch diesmal war ihr das Fleisch angebrannt und er musste es herunterwürgen.
Seinen Unmut ließ er sie deutlich spüren, seine Worte waren ungewählt und verletzend.
Es war ihm egal, sie würde ihn niemals verlassen. Dazu war sie eine viel zu treue Seele. Außerdem wusste er, dass sie auf ihn angewiesen war.
Kurz nach dem Essen war er zur Arbeit aufgebrochen. Mit dem Auto natürlich. Bei einem Imbiss hatte er sich dann erst einmal noch etwas Ordentliches für den Magen gekauft, damit er nicht den angebrannten Geschmack im Mund hatte.
Anschließend fuhr er mit seinem alten Renault durch die Stadt zu seiner Dienststelle. Das Gelände war weiträumig und man konnte sich leicht verlaufen, wenn man sich hier nicht gut auskannte.
Das Gebäude, in dem sich der Mitarbeiterraum befand, in dem seine Dienstkleidung aufbewahrt war, befand sich auf der linken Seite. Er parkte davor und betrat den schäbigen Kasten durch eine marode Tür.
Wieder so ein Punkt in seinem Leben, der Symbol war für die Ungerechtigkeit, die ihm widerfuhr.
Das Büro befand sich direkt neben dem Eingang und er lugte hinein. Wie immer war Olga, die recht hübsche russische Sekretärin, dabei, einen Haufen Papiere durchzusehen. Er musste grinsen, als er daran dachte, wie er es ihr vor einigen Wochen auf der Toilette besorgt hatte. Er hatte sich immer gefragt, ob Russinen im Liebeswahn "Da! Da! Da!" stöhnen würden, und hatte sich das recht amüsant vorgestellt. Leider war er enttäuscht worden. Doch es war dennoch ein spaßiges Erlebnis gewesen.
Er ging den schmalen Gang entlang zu den Spints. Er war spät dran und musste sich beeilen. Schnell schlüpfte er in seine blaue Jacke und zog die dazu passende Hose über. Das Funkgerät steckte schon in der Tasche und so konnte er im Eiltempo wieder das Gebäude verlassen.
Aus dem Augenwinkel sah er einen Kollegen, doch er grüßte ihn nicht.
Einige Stunden später saß er im Cockpit und fuhr wie jeden Tag die dunkle Strecke ab, die er mittlerweile in und auswendig kannte. Das Rattern der metallenen Räder hörte er sogar noch im Schlaf und vom Sich-Entlangwinden im Tunnel träumte er manchmal gar.
Die Arbeit war sicherlich gewissenhaft und er hatte bestimmt eine Menge Verantwortung. Doch das hinderte ihn nicht, die Namen der Stationen so undeutlich wie möglich anzusagen, ab und zu etwas schärfer zu bremsen oder manchmal die Türentriegelung so lange hinauszuzögern, wie es ging. Ein bisschen Freude hatte er verdient bei diesem langweiligen Job. Jeden Tag dasselbe. Da stumpft man ab. Und es wird einem vieles egal.
Doch diesmal war es nicht so wie jeden Tag. Im Nachhinein bildete er sich ein, dass er es hätte ahnen können. Dass er es hätte ahnen müssen.
Erst hatte er es gar nicht so richtig realisiert, was er da sah. Wie gewöhnlich war er den Kopf abgestützt und mit gelangweiltem Blick eingefahren. Der plötzliche Helligkeitskontrast machte ihm schon gar nichts mehr aus. Es war seine Pflicht, die Augen offen zu behalten und die Personen zu beobachten.
Er hatte es auch diesmal getan. Doch zum Reagieren blieb keine Zeit mehr.
Noch jetzt, Monate danach, sah er sie vor sich, wie diese zierliche Frau vor seinen Zug gestoßen wurde. Und er konnte nicht umhin, sich dafür die Schuld zu geben.
Er hatte sie überfahren. Und nun kam er aus dem Grübeln nicht mehr heraus.

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