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Mittwoch, 26. November 2008
Unterstes Niveau (Part 2) - 'Ein normaler Fahrgast'
Autor: der_eumel, online seit 15:52 Uhr, Kategorie: Ein paar kurze Worte
geschrieben: gerade eben
Dieser Text ist eine außerplanmäßige Veröffentlichung, wenn man das so sehen will. Aber da mir das Beschriebene gestern nunmal so passiert ist, bringt's nix, das Online-Stellen hinauszuzögern. Wie ich abschließend feststellte, lässt sich der Text auch ganz gut in die Reihe "Unterstes Niveau" einreihen, auch wenn er einen etwas anderen Charakter besitzt als der bereits veröffentlichte und die (mindestens) zwei noch folgenden Texte. Aber gut... letztendlich steht jeder Text eh für sich selbst. Achja, ich entschuldige mich im Voraus für die wahrscheinlich überflüssige Länge dieses Geschreibsels. Das passiert leider immer, wenn ich einfach so drauf los schreibe... "Sprechen Sie deutsch?" Ich befand mich in der U-Bahn, hatte zweieinhalb Stunden Training hinter mir und war einigermaßen müde. So lässt sich meine Sitzposition auf dem Dreier-Längssitz im recht leeren Wagon mit halb sitzend, halb liegend beschreiben. Die Beine hatte ich hochgelegt, jedoch ohne mit den Schuhen das Polster zu berühren. Mein Rad hatte ich vor mir an die Stange, welche sich bei diesen U-Bahn-Wagons am rechten Sitzende und somit nun in meinem Rücken befindet, angelehnt und festgeklemmt, so dass ich es während der Fahrt nicht festzuhalten brauchte. Der Zug stand ein paar Minuten im Bahnhof, denn es war der End- bzw. Anfangsbahnhof. So machte ich das immer und es ging gut so. Ich nahm niemandem Platz weg und behinderte auch niemanden. Das sah der alte Mann wohl anders. Ich nahm den rechten meiner Ohrstöpsel, aus denen wohltuender Swing klang, aus dem Ohr und bejahte seine erste Frage mit einiger Verwunderung. Brauchte er Hilfe für seinen Fahrtweg, weil er etwa das Liniennetz nicht gut lesen konnte? Nein, stattdessen plusterte er sich auf und fragte mich, ob ich das in Ordnung fände, was ich hier machte. Da fiel mir doch glatt der Linke Stöpsel auch noch aus dem Ohr. Ich fragte, was ich denn Schlimmes täte? Daraufhin wies er auf mein Fahrrad. Und dann auf meine Beine. Mit hochrotem Kopf hielt er mir einen Vortrag, dass das Fahrrad gefälligst an die Rückwand des Führerhäuschens abzustellen sei und ich mich wie ein normaler Mensch hinzusetzen habe. Ich sei schließlich ein normaler Fahrgast und kenne ja wohl die Beförderungsbedingungen. Ich wollte wissen, ob ihn das wirklich störe, dass ich mein Fahrrad hier und nicht einskommafünf Meter weiter zu stehen hatte, denn es konnte dort, wo es stand, wirklich niemanden behindern. Er reagierte mit einem erneuten Schwall voller Moralpredigten. Es störe ihn sehr wohl, schon beim Betreten des Wagons habe ihn das Rad gestört. Jeder Fahrgast würde sich behindert fühlen, weil zu wenig Platz vorhanden sei. Er war nahezu außer sich und seine Augen, mit denen er mich glasig anstierte, quollen aus seinem Gesicht hervor. Die anderen Fahrgäste drehten sich um, um zu sehen, was da vor sich ging. Zwei Frauen, die mir gegenüber saßen, konnten nicht umhin, das Schauspiel mitzuverfolgen und schon nach wenigen Momenten merkte ich klar, dass sie den alten Opa genauso lächerlich fanden wie ich. Natürlich bewegte ich weder mich noch mein Fahrrad auch nur einen Zentimeter. Was denkt der alte Sack, wer er ist? Nur weil er ein paar Jahre mehr auf dem Buckel hat, im Krieg bei Nazi-Eltern aufgewachsen ist und seitdem allergisch auf jegliche Disziplinlosigkeit reagiert, nur weil er zu Hause niemanden mehr hat, mit dem er über seine Sorgen und Ängste reden kann, nur weil nicht damit klar kommt, älter zu werden, ist das noch lange kein Grund, beliebig irgendwelche Passanten wegen Lapalien anzumeckern und aus Mücken solche Elefanten, nein, Dinosaurier zu machen. Es war ja kein reines Genörgel. Er meinte das wirklich ernst! Und das war ja noch nicht alles. Als er merkte, dass sein Rumgeschnauze bei mir nichts bewirkte außer gereizt-patzige und später dann auch etwas aggressivere Antworten und abwertendes Lachen ob dieser Lächerlichkeit meinerseits hervorzurufen (da er offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf war), kam zufällig der Zugfahrer daher, der gerade vom Ende des Zuges zum Anfang lief, um dort dann wieder loszufahren. Voll in Rage hämmerte der Opa wie ein Bekloppter von innen gegen die Scheibe, so dass der Zugfahrer seine Aufmerksamkeit erlangte und in den Wagon kam. "Herr Schaffner, finden Sie das hier in Ordnung? Würden Sie bitte was machen? Das kann doch hier wirklich nicht sein, dass..." Der Zugfahrer unterbrach ihn, sichtlich genervt: "Was wollen Sie denn? Was soll ich denn machen? Ich bin der Fahrer und nicht der Sicherheitsdienst! Können wir jetzt losfahren?" Danke, Herr Schaffner! Noch besser wär's gewesen, wenn er den Stressmacher-Opa gleich rausgeschmissen hätte wegen öffentlicher Unruhestiftung. Aber er ist ja nicht der Sicherheitsdienst. Zwar erklärte er, dass er die Polizei oder eben diesen Sicherheitsdienst rufen könne, machte aber deutlich, dass diese Aktion absolut peinlich wäre. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn der alte Typ darauf bestanden hätte, doch anscheinend war es ihm SO wichtig nun doch nicht. Stattdessen beschränkte er sich weiterhin darauf (nachdem der Fahrer entnervt den Wagon wieder verlassen hatte), mir Unfähigkeit im gepflegten Umgang mit anderen Menschen vorzuwerfen, mich als unsozial darzustellen und schließlich auch noch meine Intelligenz in Frage zu stellen. Ich bewundere mich selbst, dass ich da so ruhig bleiben konnte und eigentlich fast ausschließlich nur noch lachte. Es war wirklich lustig, wenn man das objektiv betrachtete. So ein alter Spinner echauffiert sich so sehr, dass man Angst um sein Herz haben muss, wegen eines Fahrgastes, der nicht stursteif aufrecht auf dem Platz sitzt und sein Rad nicht 100%ig ordnungsgemäß im nahezu leeren Wagon hingestellt hat (wobei ich das ehrlich gesagt bezweifle, dass das orndungswidrig war, schließlich sind die Sitze hier absichtlich längs gerichtet, damit man hier größere Dinge wie Kinderwagen, Koffer oder eben Fahrräder abstellen kann). Mein Grinsen und meine Uneinsichtigkeit brachten ihn dann schließlich zur Aufgabe. Nach erneuten Vorwürfen eines moralischen Versagens meinerseits und einem genervten Eingreifen der beiden Damen, er solle sich doch einfach hinsetzen und Ruhe geben, verabschiedete er sich und setzte sich auf einen Platz auf der anderen Seite des Wagons. Ich wechselte ein paar Worte mit den beiden Frauen, die den Auftritt des Spinners ebenso lächerlich fanden wie der "Herr Schaffner" und ich. Naja... die Fahrt verlief dann komplett problemlos. Niemand beschwerte sich wegen meinem Fahrrad, denn schließlich konnte jeder bequem daran vorbeigehen. Doch die Kuriositäten des Heimwegs vom Training nahmen erst dann ein Ende, nachdem einer der Obdachlosen, die allabendlich am Bahnhof Leopoldplatz rumlungern, mich beobachtete, wie ich mein Rad die Treppe hochtrug, und mich dann beschuldigte, sein Rad geklaut zu haben. "Ey, das... das sieht doch aus wie meins! Das hast du doch... Wo hast du das gekauft??" Ich hatte es vor einigen Jahren beim größten Fahrradladen Berlins namens "Stadler" gekauft. Das blaffte ich ihm dann ins Gesicht und fuhr weg. Der blöde Sack gaffte nur hinterher und hatte keine Ahnung, was "Stadler" war. In mir breitete sich nach dieser Fahrt eine echt seltsame Stimmung aus. Es gibt Jugendliche, die verhalten sich wahrlich unmöglich in der Öffentlichkeit, rotzen in der U-Bahn auf den Boden, sprühen Graffiti auf die Sitze, prügeln sich im Wagon, grölen rum, rauchen trotz des absoluten Rauchverbots in den Zügen, lassen Müll liegen, versauen den Wagon mit Essensresten und lassen Bierflaschen auslaufen. SOLCHE Leute kann der Typ gerne ansprechen und ihnen eine Moralpredigt halten, doch wahrscheinlich hat er dafür nicht den Mumm. Aber MICH auf solche Weise anzumachen, ist echt schon eine Frechheit. Mich, der schon beim Überqueren der absolut leeren Straße bei Rot ein schlechtes Gewissen kriegt; der immer und überall seinen Müll mitnimmt und ihn in den nächsten Mülleimer wirft statt ihn einfach fallen zu lassen wie so viele andere Leute; der immer rücksichtsvoll, zuvorkommend, ehrlich und aufrichtig handelt; der niemals wirklich lügt oder anderen Schaden zufügt; der nicht einmal Geld mitgehen lässt, wenn er die Möglichkeit dazu hätte; der seine Schulden bei anderen begleicht, obwohl diejenigen sie offensichtlich schon längst vergessen hatten; der alten Leuten seinen Sitzplatz anbietet, wenn alles voll ist; der am Tag zuvor einer Frau hinterhergelaufen ist, um ihr ihre in der S-Bahn vergessene Tasche wiederzubringen; der extra vom Rad absteigt, um einer alten Frau ihren Rollwagen den Bordstein hochwuchten; der bremst, um einer anderen Radfahrerin einen Apfel aufzuheben, der von ihrem Korb gefallen war und nun über die Straße kullerte; der immer und überall ruhig bleibt und nie Gewalt anwendet; der viel stärker als die meisten Menschen ein Gefühl und eine Vorstellung für Gerechtigkeit besitzt; der es nicht übers Herz bringt, eine Fliege mit einer Fliegenklatsche zu zermatschen und deshalb lieber die Mühe auf sich nimmt, sie lebendig zu fangen und freizulassen; der verdammt nochmal sich in seinem verhältnismäßig kurzen Leben wahrscheinlich bereits viel mehr Gedanken über die Gesellschaft und die Funktion des Zusammenlebens sowie die menschliche Seele gemacht hat als dieser lachhafte Schwachkopf von altem Sack!!! Und mir dann auch noch (aus reiner Langeweile) Diebstahl vorzuwerfen... Ick gloobe, es hackt! Mein Fahrrad bedeutet mir viel, wahrscheinlich so wie ein Auto seinem Besitzer etwas bedeutet. Ich mag es und ich habe mit ihm schon so einiges erlebt. Es war eine Mischung aus Wut, Unglaube und Freude ob dieser Ironie. Es fühlte sich jedenfalls ziemlich komisch an. Ich will hier nicht darstellen, wie toll ich doch bin. Ich will nur meinen gerade beschriebenen Gefühlen Ausdruck verleihen. Leider ist grade niemand da, dem ich's erzählen kann, also schreib ich's auf - vielleicht findet es ja jemand lesenswert. ... direkter Link ... Kommentar schreiben (3 Kommentare) ... older stories
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